02.04.2024

Die Fragen leben

Vor Kurzem bin ich wieder über diese Zusammenfügung verschiedener Stellen aus den Briefen an einen jungen Dichter von Rainer Maria Rilke gestoßen. Ein paar Gedanken dazu:

johannes-beering

VON JOHANNES BEERING

Maschine oder Mensch?

Und, läuft’s bei Dir wie geschmiert? Oder hast Du gerade eher Sand im Getriebe?

Manche Probleme lassen sich mit ein paar gekonnten Handgriffen wieder lösen. Bei Maschinen ist das so: Ein Fahrrad mit einem Platten, kann schnell wieder geflickt und „flott“ gemacht werden. Sie können auch beschleunigt werden – z. B. durch einen Motor mit höherer Leistung. Auch gewisse Prozesse kann ich optimieren, indem ich mir einen Plan mache, Organisationsstrategien lerne und anwende.

Oder ich nehme Maschinen zur Hilfe: Eine Navigations-App berechnet mir den kürzesten Weg zum gewünschten Ziel in Sekundenschnelle. Künstlichen Intelligenzen werden weiterentwickelt, die enormes Potential haben.

Interessanterweise reden wir manchmal in ähnlichen Bildern bezogen auf uns selbst oder andere, nur: Wir Menschen sind eben keine Maschinen. Wir sind nicht durch ein paar Eingriffe reparierbar oder optimierbar. Wir sind viel komplexer. Für innere Prozesse und persönliche Entwicklungen wünsche ich mir zwar auch oft, sie mögen sich doch bitte schnell mal eben klären – jemand hätte ein Rezept, eine Anleitung wie ich mit Schritten 1-10 zur Lösung komme. Im Zusammenspiel unserer Welt von Körper, Geist und Seele geht es aber um mehr, als ein mechanisches „Funktionieren“.

Die Fragen leben

„Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt“ und „Geduld haben, mit dem Ungelösten im Herzen“. Das ist keine leichte Übung. Es erfordert Mut, „die Fragen selber lieb zu haben“ und „alles zu leben“, bis schließlich eine Klarheit reift und geboren wird.

In Bezug auf den Glauben erlebe ich das so wie der Apostel Thomas, der die Frage nicht loslässt, ob Jesus denn wirklich auferstanden sei. Er gibt sich nicht damit zufrieden, die Erfahrung der anderen einfach zu übernehmen. Ihm ist es wichtig, seine eigene Erfahrung zu machen und Jesus gibt ihm auch die Gelegenheit dazu. Thomas lebt in seine Frage hinein, bis sich die für ihn notwenige Klarheit einstellt.
(Vgl. Joh 20,24 ff.)

Ob das Austragen unserer Früchte wie bei Thomas acht Tage dauert oder ob unser Winter länger dauert, wir dürfen getrost sein: Der Sommer kommt.

 

Jubeln werden die Wüste und das trockene Land,
jauchzen wird die Steppe und blühen wie die Lilie.
(Jes 35,1)

Über die Geduld

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann Gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben
mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Rainer Maria Rilke (aus den Briefen an einen jungen Dichter)

Das könnte dich auch noch interessieren: